Frankfurter Allgemeine Zeitung Feuilleton 10. März 1999
Quälstube und Folterkammer der Seele
Die ganze Welt ein Abgrund: Alban Bergs Oper "Wozzeck" eindrucksvoll
in Kassel
Eine versprengte Baracken-Ansiedlung am Boden einer vorweltlichen
Schlucht, auf dem Grund eines verödeten Meeres oder im gräßlichen
Schlund eines mythischen Riesen - die Kasseler Produktion
läßt Alban Bergs Büchner-Oper dort spielen, wo der verzweifelte
Wozzeck den Ursitz alles bösen wähnt: in den Tiefen eines
Abgrunds.
Als dieser erscheint hier nicht nur "der Mensch", wie es
in der Partie der Titelfigur heißt, sondern die ganze Welt.
Daher kämpft jeder gegen jeden. Ebensoweinig, wie sie zum
vielstrapazierten "sozialen Mitleid einlädt, gestattet Michael
Leinerts Inszenierung das bewährte Sortieren der dramatis
personae nach der Manier: die Armen ins Töpfchen, die Mächtigen
ins Kröpfchen.
Frei von bedeutungsschwangerem Symbolismus, scheint vielmehr
alles aus der Innenperspektive Wozzecks wahrgenommen. Dieses
relativiert das dargestellt Grauen nicht, sondern verschärft
es:
Denn an diesem heillosen Ort, an dem Marie ihre Bibel schließlich
in wütender Verzweiflung zerreißen wird, gibt es tatsächlich
nichts mehr, an das man sich halten könnte. Sogar die Unterscheidungen
zwischen Gut und Böse, Drinne und Draußen oder Traum und Realität
scheint außer Kraft gesetzt.
Schon das vom Regisseur zusammen mit Oliver Doerr entworfene
Bühnenbild - ein Szenario der auf Dauer gestellten déja-vu-Effekte,
wie es Adorno in den Dichtungen Franz Kafkas realisiert sah
- macht das sinnfällig. Gigantische erdfarbene Tuchbahnen,
die den Bühnenraum begrenzen, suggerieren albtraumhafte Unendlichkeit.
Und auch die nur notdürftigen Schutz vor dieser gottverlassenen
Natur bietende Behausung wirkt surreal, so schräg und vieldeutig
sie aus alltäglichem Zivilisations-Schrott zusammenmontiert
ist. Eine asphaltierte, abschüssige Fläche dient ihr zugleich
als Dach und als Platz des öffentlichen Lebens, auf dem sich
neben ein paar armseligen Lampions und einer Girlande auch
eine riesige Leinwand mit Wozzecks Namensinitial erhebt wie
ein erratisches Himmelszeichen. Durch Luken und Stiegen in
der oberen Ebene verbunden, liegen im labyrinthischen Gestänge
eines die Decke stützenden Metallgerüsts die Innenräume als
undurchsichtige Verschläge.
In diesem Kellergeschoß befinden sich die Folterkammern und
Quälstuben der Seele, aber auch geheimnisvolle Schlupfwinkel
der Kindheit, deren Gegenstände, wie eine von der Decke baumelnde
Schaukel, im halbdunkel nur schemenhaft zu identifizieren
sind.....
Bodo Brinkmann läßt die Titelfigur nicht als geducktes Opfer
erscheinen, sondern als archaische Gestalt von prophetenhafter
Statur. Auch stimmlich strahlt er mit seinem voluminösen und
modulationsfähigen Bariton eine imponierende Kraft aus. Musikalisch
gestaltet er die Partie schier überwältigend, ebenso wie Susan
Owen jene der Marie, mit der sie ihr grandioses Rollendebüt
gab. Im Keller einer Welt des Ausrangierten sind auch ihre
Szenen mit dem Kind fern aller verkitschten arme-Leute-Idylle.
Marie erscheint vielmehr als heftige, unausgegorene Person.
Berstend vor unkontrollierter Sinnlichkeit reagiert sie ihre
Not übersprungsartig ab: indem sie ihren Sohn sinnlos schlägt
oder nach draußen stürzt, um sich mit wildem action-painting
auf der monumentalen Plakatwand Luft zu machen. Auch in ihrem
Verhältnis mit dem Tambourmajor (Alfons Eberz als heldentenoral
protzende Bestie) ist sie nicht im Lot. Daß sie seine Gewalttaten
über sich ergehen läßt, entspringt eher einer depressiven
Gleichgültigkeit als erotischer Gier oder berechnendem Kalkül.
Die verschiedenen Ebenen der Bühnenkonstruktion erlauben
dem Regisseur, mehrere Erzählschichten gleichzeitig umzusetzen.
Fast nie sind die Vorgänge als bloße Verdoppelung der von
Berg bis ins Kleinste zisilierten musikalischen Dramatik angelegt.
Statt dessen zeigt die Szene oft mehr, bisweilen auch weniger,
als das Libretto vorschreibt. Die Tragödie entfaltet ihre
innere Zwangläufigkeit dadurch weniger im Sinne einer linearen
Abfolge als in detailreichen Tableaux, die kaleidoskopartig
ineinandergreifen. Das entspricht nicht nur der Vielgestaltigkeit
der Bergschen Partitur, sondern in besonderer Weise auch der
losen Szenenabfolge des Dramenfragments von Georg Büchner,
das dem Komponisten nur in der arg zugerichteten Bearbeitung
von Karl Emil Franzos vorlag.
Eine Zuspitzung erfährt das Geschehen in Leinerts Regie dadurch,
daß die Darstellung sich im Verlauf des Stückes immer stärker
von ihren realistischen Resten ablöst. Schon die große Wirtshausszene
des zweiten Aktes entwirft ein fast surrealistisches Bild
mit engumschlungenen Paaren, die von Anfang an kopulieren,
statt zu tanzen. Der kindlichen Innigkeit wegen, mit der sie
Trost in der Verschmelzung zu suchen scheinen, fehlt diesem
Anblick alle Obszönität - zumal die Figuren in ihre Kleider
gehüllt sind. Die Menschenmenge macht so auch ein wenig den
Eindruck eines großen Lumpenhaufens. Später, wenn alle eingeschlafen
sind und der Tod (der Narr) als Zeremonienmeister dem Wozzeck
das Mordmesser verkauft hat, verwandelt sich die Menge in
einen Leichenberg. Ins Hoffmanneske schlägt die Szene um,
wenn Wozzeck blutverschmiert in Margrets schäbiger Schenke
auftaucht. Denn auf dem Höhepunkt des ohrenzerreißenden Crescendos
nach dem Mord kippt ein zuvor unidentifizierbares Gerümpel
plötzlich in die Senkrechte, wie ein Springteufel. Das aggressive
Ding entlarvt sich als verstimmtes, die Tastatur wie eine
Zahnreihe fletschendes Pianino. Hier dominiert es die Szene
nicht nur musikalisch, sondern auch szenisch: der auf ihm
gehämmerte obligate Rhythmus ist eine Mechanik, nach der die
Menschen zucken müssen. - Den drastischen Ausdruck der beiden
Teichszenen, Wozzecks Mord an Marie und sein Ertrinken im
See, überläßt der Regisseur dagegen weitgehend der Musik.
Zum einen bewahrt er die Darsteller so wohltuend vor peinlichem
Gehampel. Zum anderen wirkt dies atemberaubend dramatisch,
weil Marc Piollet mit dem Orchester des Staatstheaters Kassel
eine intensive, höchst nuancierte Interpretation der komplizierten
Partitur gelingt...
Wenn am Ende die Kinder zu ihrem "Ringelreihen" die Anfangsszene
zwischen Hauptmann und Wozzeck nachspielen, erhält die dramatische
und musikalische Kreisform der Oper auch ihren treffenden
szenischen Ausdruck.
JULIA SPINOLA
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